Parlamentarische
Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik in den EU-25-Staaten und der
Irak-Krieg 2003
Ausgangspunkt
für das hier abschließend dokumentierte Projekt zur „Parlamentarischen
Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“ („paks“) war die
Beobachtung, dass sich einige, aber nicht alle europäische Staaten 2003
an der Irak-Intervention beteiligten, obwohl eine Bevölkerungsmehrheit
in allen Ländern die Kriegsbeteiligung ablehnte. Dies widerspricht auf
den ersten Blick der auf Kant zurückgehenden (monadischen) Theorie des
„demokratischen Friedens“, die erwarten lässt, dass in demokratischen
Ländern die Kriegsabneigung der Bürger die außenpolitische
Zurückhaltung der Regierung zur Folge hat.
Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz zwischen theoretischer
Erwartung und empirischer Beobachtung deutete bereits 1996 Ernst-Otto
Czempiel an. Er machte für das kriegeri-sche Außenverhalten vieler
Demokratien deren ungenügenden Grad an Demokratisierung ihrer Außen-
und Sicherheitspolitik verantwortlich, wobei er „Demokratisierung“ als
„Parlamentarisierung“ konkretisierte. Demzufolge könne eine
Kriegsaversion der Bürger nicht in ausreichend wirksamem Maße auf den
außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess einwirken.
Im vorliegenden Projekt griffen wir diese Anregung Czempiels auf und
formulierten folgende Arbeitshypothese: Wenn im Kontext einer
demokratisierten Außenpolitik eine Kriegsaversion in der Bevölkerung
mehrheitlich vorhanden ist, dann führt dies auch zu einem
kriegsablehnenden außenpolitischen Verhalten der betreffenden
Regierungen. Abgeleitet aus dieser Arbeitshypothese
operationalisierten wir entsprechend Czempiels Vorschlag
Demokratisierung als Parlamentarisierung der Sicherheitspolitik. Dies
erlaubt die Formulierung der zentralen Forschungshypothese, dass sich
machtvolle Parlamente responsiv gegenüber einer kriegsaversiven
Bürgerschaft verhalten und die Sicherheitspolitik von Exekutiven
eingrenzen.
Als Testfall wählten wir das Verhalten europäischer Staaten im
Zusammenhang mit der Irak-Intervention 2003 aus. Das
Untersuchungssample bestand aus allen 25 Staaten, die Anfang 2003
entweder Mitglieder der Europäischen Union waren oder deren Beitritt
unmittelbar bevorstand. Eine europaweite Meinungsumfrage des Instituts
EOS-Gallup Europe von Ende Januar 2003 belegte, dass sich in allen 25
Ländern des Samples eine deutliche Mehrheit von jeweils mindestens 60
Prozent der Befragten gegen eine Beteiligung ihres Landes an einem
militärischen Vorgehen gegen den Irak ohne Mandat des
UN-Sicherheitsrats aussprach. Somit konnten wir in allen Ländern eine
kriegsaversive Bürgerschaft voraussetzen.
Aus diesen Überlegungen ergab sich der Ablauf des Projekts: Aufgabe war
zunächst, geeignete Messinstrumente zur Erhebung der beiden Variablen
„Ausmaß parlamentarischer Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“
einerseits und „Grad der Kriegsbeteiligung“ andererseits zu entwickeln,
was in Form zweier Typologien erfolgte. Auf dieser Grundlage wurden
dann in arbeitsaufwändigen Recherchen die entsprechenden Daten für die
25 Länder erhoben, überprüft und kodiert. In einem abschließenden
Schritt erfassten wir die Zusammenhänge zwischen parlamentarischer
Kontrollmacht und Kriegsbeteiligung, um die Forschungshypothese zu
testen.
Zunächst
erstellten wir zunächst einen Literaturbericht zum Stand der Forschung
(paks working paper 2) und entwickelten theoretisch fundierte
Messinstrumente für die Erhebung der beiden Variablen „Ausmaß
parlamentarischer Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“
einerseits (paks working paper 3) und „Grad der Kriegsbeteiligung“
(paks working paper 4).
Die intensive und fundierte Analyse der theoretischen Grundlagen (auch
im Kontext der eigenen wissenschaftlichen Vorarbeiten der
Projektleiter) ergab, dass der Zusammenhang zwischen
Parlamentarisierung der Sicherheitspolitik und Kriegsbeteiligung
bislang kaum beachtet und auch weder kritisch hinterfragt noch
empirisch-analytisch an spezifischen Fallbeispielen systematisch
erfasst und analysiert worden war. Einschlägige Untersuchungen
beschäftigten sich entweder mit dem Sonderfall USA oder sie bezogen
sich auf institutionell-juristische Fragen, ohne den wissenschaftlichen
Anspruch zu erheben, den angenommenen pazifizierenden Effekt einer
Parlamentarisierung der Außensicherheitspolitik näher zu überprüfen.
Eine weitere wissenschaftliche Leerstelle fand sich dahingehend, dass
sich die wenigen systematisch-ländervergleichenden Erhebungen bislang
eng auf das Entsenderecht im Zusammenhang mit den im Vergleich zu einer
Kriegsbeteiligung weitaus weniger risiko- und kostenträchtigen und auch
normativ weniger problematischen Peacekeeping-Operationen konzentriert
hatten.
Nach Durchsicht der Literatur war deutlich, dass wir uns nicht auf
vorhandene Typologien stützen konnten, sondern diese völlig neu
entwickeln mussten. Die Herausforderung bestand darin, dass die
gängigen politikfeldunspezifische Typologien demokratischer Systeme
(wie beispielsweise bei Elman [1]
oder die an militärstrategischen Kriterien orientierten
Kriegsbeteiligungstypologien (wie bei den üblichen Kriegsstatistiken)
für unsere Zwecke nicht brauchbar waren. Daher entwickelten wir eine
„paks Typologie zur Stärke parlamentarischer Macht in Fragen
militärischer Gewaltanwendung“ und eine „paks Typologie zum Grad der
Kriegsbeteiligung im utilitaristischen Kalkül der Bürger“. Beide
Typologien unterscheiden jeweils fünf ordinal skalierte Stufen und
ermöglichen eine differenzierte Erfassung der beiden Variablen. In
vielen Fällen wird erst dadurch die pazifizierende Wirkung von
Demokratisierung sowohl identifizierbar als auch plausibel, welche die
bisher übliche dichotome Gegenüberstellungen von Demokratie vs.
Nichtdemokratie und Kriegsbeteiligung vs. Nichtbeteiligung verdeckt
hatten.
Den größten Aufwand im Rahmen der Projektarbeit erforderte die Erhebung
der Daten zur Stärke parlamentarischer Macht und zur Kriegsbeteiligung
entsprechend den beiden paks-Typologien. Die Kontrollmacht der 25
europäischen Parlamente im Bereich der militärischen
Sicherheitspolitik, speziell bei der Frage der militärischen
Gewaltanwendung, erhoben wir anhand von vier politikfeldspezifisch
konzeptualisierten Machtressourcen der Parlamente, d.h. legislative
Ressourcen (Entsende- und Budgetrecht), Kontrollressourcen
(Informations- und Untersuchungsrecht), Kommunikationsressourcen
(Herstellung von Öffentlichkeit durch Debatten) sowie Abwahlressourcen
(Entlassung einzelner Minister und/oder der Regierung gesamt) (paks
working paper 3, S. 12ff.). Die Datensammlung umfasste neben der
Analyse von Rechtstexten (Verfassungen, Gesetzen und
Geschäftsordnungen) sowie länderspezifischer und übergreifender
Literatur auch eine Erhebung von Primärdaten mittels eines
Fragebogens, der an alle 25 europäischen Parlamente versandt und durch
Telefoninterviews ergänzt wurde. Dieser Fragebogen enthielt im
Wesentlichen offene Fragen und war qualitativ strukturiert, auf
quantitative Fragekomplexe wurde verzichtet. Im Rahmen dieser
aufwändigen Primärerhebung konnten wir einige Mängel und
Fehlinformationen in der bisherigen Fachliteratur (z.B. zur zeitlichen
Geltung bestimmter Gesetze oder zur korrekten Übersetzung der
Dokumente ins Englische, Deutsche oder Französische) korrigieren und
bislang unbekannte Detailinformationen erschließen (was in mehreren
Fällen die betreffenden Parlamente selbst dazu bewegte, juristische
Gutachten anfertigen zu lassen). In wenigen Fällen ließ sich jedoch
trotz dieses Aufwands die genaue Bedeutung von Rechtsbestimmungen nicht
eindeutig klären. Angesichts der begrenzten zeitlichen und personellen
Projektressourcen mussten wir diese Lücken hinnehmen, die jedoch die
grundsätzliche Kodierung der einzelnen Fälle nicht beeinträchtigten.
Diese Lücken blieben sowohl für die die theoretische Ableitung der
paks-Typologien als auch für das Gesamtergebnis der empirischen
Operationalisierung ohne Relevanz.
Aufgrund der im Projektdesign geplanten Verknüpfung mit der Beteiligung
der jeweiligen Staaten am Irak-Krieg erfassten wir den Stand der
parlamentarischen Kontrollmacht im Bereich der militärischen
Gewaltanwendung zum Frühjahr 2003. Mittlerweile haben sich in einigen
der Fälle die Machtressourcen verändert, so dass heute einige
Parlamente anders eingestuft werden müssten. Beispiele hierfür sind
die Fälle Spanien und Zypern, in denen die parlamentarische Kontrolle
ausgebaut worden ist, oder Ungarn, wo es zu einem Abbau der
parlamentarischen Kontrollrechte gekommen ist.
Für die 25 Fälle trugen wir parallel Daten über die jeweilige
Beteiligung am Irak-Krieg 2003 zusammen. Dabei unterschieden wir
strikt, ob sich die Kriegsbeteiligung auf die Vorbereitung und
Durchführung des internationalen Kriegs zwischen der „Coalition of the
willing“ und dem Irak (bis einschließlich April 2003) oder auf die
nachfolgende Phase der militärischen Besatzung und „Stabilisierung“
des Irak (ab Mai 2003) bezog. Gemäß dem ursprünglichen Projektdesign
erhoben wir die Kriegsbeteiligung für beide Zeiträume entsprechend der
paks-Typologie, um durch diese zeitlich gestaffelte Messung der
Kriegsbeteiligung denkbare verzögerte Vetoeffekte parlamentarischer
Beteiligung erfassen zu können. Diese erwarteten wir zum ersten
aufgrund rechtlicher Verzögerungseffekte beim parlamentarischen
Handeln, beispielsweise durch die Frist von 60 bzw. 90 Tagen für
Truppenentsendungen ohne Parlamentsbeschluss gemäß dem
US-amerikanischen War Powers Act. Zum zweiten erwarteten wir
Verzögerungseffekte auch durch eine mögliche veränderte (ökonomische
und rationalistisch orientierte) Kostenkalkulation der Bürger parallel
zum zeitlichen Fortschreiten der militärischen Aktion und zwar
abhängig davon, ob es sich um erwartete Kosten vor Kriegsbeginn oder
tatsächliche Kosten während des Kriegsverlaufs handelt.
In der Endauswertung des Projekts verzichteten wir jedoch aus mehreren
Gründen darauf, die Post-Interventionsphase zu berücksichtigen und
beschränkten uns auf die Phase der Vorbereitung und Durchführung der
eigentlichen militärischen Intervention. Der Hauptgrund hierfür bestand
darin, dass für diese Phase eines intensiv geführten klassischen Kriegs
im Sinne des utilitaristischen Kalküls der Bürger mit den potentiell
höchsten Kosten zu rechnen war. Unter diesen Umständen musste hier die
Kriegszurückhaltung am deutlichsten ausgeprägt sein. Der
Verzögerungseffekt für parlamentarische Kontrolle zum Beispiel gemäß
dem US-amerikanischen War Powers Act bezog sich daher eher darauf, dass
ein ursprünglich kurzer und wenig intensiver Militäreinsatz eskaliert
und das Parlament die Regierung dann „ausbremst“ oder blockiert. Im
Falle des Irak-Kriegs 2003 hatten wir es jedoch mit einer
gegenläufigen Entwicklung zu tun, da hier ein ursprünglich sehr
intensiver Krieg nach relativ kurzem Verlauf vermeintlich mit einem
militärischen Sieg beendet werden konnte und im Kalkül der Bürger – und
der Parlamente – danach lediglich noch Stabilisierungs- und
Peacekeeping-Einsätze durchgeführt werden mussten. Außerdem veränderte
sich das normative „framing“ des Irak-Kriegs im Verlauf und somit auch
das Kosten-Nutzen-Kalkül der Bürger. Die in unserer Hypothese
unterstellte europaweite Kriegsaversion der Bürger bezieht sich auf
eine Umfrage vom Januar 2003, in der die Frage des fehlenden UN-Mandats
eine entscheidende Rolle spielte. Für die Besatzungsphase ab Mai 2003
kann dies jedoch nicht mehr in gleicher Weise unterstellt werden, da
der UN-Sicherheitsrat mit der am 22. Mai 2003 verabschiedeten
Resolution 1483 die Besatzungstruppen für die Verwaltung des Irak
verantwortlich macht und sich damit aus der Sicht der Bürger die Frage
des UN-Mandats möglicherweise anders darstellt. Wie wir im paks
working paper 10 ausführen, bietet es sich dessen ungeachtet an, auf
der Grundlage unserer Daten weiterführende Studien zum Beispiel zu den
verzögerten Effekten des „parlamentarischen Friedens“ oder zu einer
möglichen Diskrepanz zwischen einer normativen und einer
utilitaristischen Bewertung der Kriegsbeteiligung durch die Bürger
durchzuführen.
Jenseits eines „common sense“ darüber, welcher Staat sich wie am
Irak-Krieg beteiligt hat, zeigt die genaue Erhebung der
Kriegsbeteiligung im hier erläuterten Sinne einige erstaunliche
Befunde, die durchaus auch von der diplomatischen Position der
jeweiligen Regierung zum Irak-Krieg – sowohl als Unterstützerin wie
Kritikerin – abweichen können.
Für die statistische Endauswertung unserer Ergebnisse benutzen wir über
die im Projektantrag genannten Koeffizienten hinaus weitere Maßzahlen,
die uns im Hinblick auf die modifizierte Struktur der Typologien und
unter Berücksichtigung fachmethodischer Ratschläge aussagekräftiger
erschienen. Insgesamt konnten wir dadurch zeigen, dass die Verteilung
unserer Untersuchungsergebnisse überzufällig ist und unsere Hypothese
tendenziell bestätigt wird (paks working paper 10).
Im
Ergebnis haben sich die Staaten, deren Parlamente über eine starke
Kontrollmacht im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik verfügen,
bei der Irak-Intervention 2003 tenden-ziell mit ihrer Kriegsbeteiligung
zurückgehalten, d.h. höchstens in Form logistischer Hilfe an der
Irak-Intervention 2003 beteiligt. In Polen und Großbritannien, den
beiden Staaten aus unserem Sample, die als einzige Bodenkampftruppen in
den Irak schickten, spielen die Par-lamente in den entsprechenden
Entscheidungsprozessen eine nur nachrangige Rolle. Beide Befunde
bestätigen unsere Hypothese vom „parlamentarischen Frieden“.
Andererseits ergaben sich auch Befunde, die den „parlamentarischen
Frieden“ relativieren. Zum einen entdeckten wir zwei deviant cases:
trotz sicherheitspolitisch starker Parlamente und einer jeweils
deutlich kriegsaversiven Bürgerschaft entsandte Dänemark
Marinestreit-kräfte und Litauen schickte rückwärtige Militäreinheiten
in das Kriegsgebiet. Eine solche Kriegsbeteiligung entspricht
schwerlich den Erwartungen eines „parlamentarischen Friedens“, selbst
wenn in beiden Fällen nicht die höchste Stufe einer Kriegsbeteiligung
mit Bo-denkampftruppen erreicht wurde.
Zum anderen erstaunt die lange Liste der Länder, die sich am Krieg
logistisch beteiligten, also die Nutzung von Militärstützpunkten,
Flughäfen und Seehäfen erlaubten oder Transit- und Überflugrechte
gewährten. Darunter befinden sich viele Länder mit sicherheitspolitisch
starken Parlamenten, darunter sind auch prominente Kritiker der
Irak-Intervention wie Deutschland, Frankreich und Belgien sowie
neutrale oder nichtalliierte Länder wie Irland und Zypern. Dieser
Befund bestätigt eine schon frühzeitig von Müller/Risse-Kappen [2]
formulierte Antinomie des „demokratischen Friedens“, dass nämlich das
utilitaristische Kosten-Nutzen-Kalkül der Bürger nicht zwangsläufig in
eine friedliche Außenpolitik demokratischer Staaten münden muss,
sondern unter der Bedingung geringer Kriegsbeteiligungskosten durchaus
auch zugunsten einer kriegerischen Außenpolitik ausfallen kann (paks
working papers 7 und 9).
Ein erstaunliches Ergebnis des Projekts ergab sich übrigens bereits bei
der Datenerhebung zu den parlamentarischen Kontrollkompetenzen:
Defizite bei der parlamentarischen Kontrolle der Sicherheitspolitik
sind ausgerechnet bei den Mutterländern der Demokratie in Europa zu
finden, bei den Parlamenten in Großbritannien, Frankreich und
Griechenland (paks working papers 5 und 8).
[1] Elman, Miriam Fendius 2000: Unpacking Democracy: Presidentialism, Parliamentarism, and Theories of Democratic Peace, in: Security Studies 9, 4, 91-126.