Sandra Dieterich, Hartwig Hummel, Stefan Marschall

Abschlussbericht des Projektes

 

Parlamentarische Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik in den EU-25-Staaten und der Irak-Krieg 2003

 

Ausgangsfragen und Zielsetzung des Projekts

Ausgangspunkt für das hier abschließend dokumentierte Projekt zur „Parlamentarischen Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“ („paks“) war die Beobachtung, dass sich einige, aber nicht alle europäische Staaten 2003 an der Irak-Intervention beteiligten, obwohl eine Bevölkerungsmehrheit in allen Ländern die Kriegsbeteiligung ablehnte. Dies widerspricht auf den ersten Blick der auf Kant zurückgehenden (monadischen) Theorie des „demokratischen Friedens“, die erwarten lässt, dass in demokratischen Ländern die Kriegsabneigung der Bürger die außenpolitische Zurückhaltung der Regierung zur Folge hat.

Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz zwischen theoretischer Erwartung und empirischer Beobachtung deutete bereits 1996 Ernst-Otto Czempiel an. Er machte für das kriegeri-sche Außenverhalten vieler Demokratien deren ungenügenden Grad an Demokratisierung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verantwortlich, wobei er „Demokratisierung“ als „Parlamentarisierung“ konkretisierte. Demzufolge könne eine Kriegsaversion der Bürger nicht in ausreichend wirksamem Maße auf den außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsprozess einwirken.

Im vorliegenden Projekt griffen wir diese Anregung Czempiels auf und formulierten folgende Arbeitshypothese: Wenn im Kontext einer demokratisierten Außenpolitik eine Kriegsaversion in der Bevölkerung mehrheitlich vorhanden ist, dann führt dies auch zu einem kriegsablehnenden außenpolitischen Verhalten der betreffenden Regierungen. Abgeleitet aus dieser Arbeitshypothese operationalisierten wir entsprechend Czempiels Vorschlag Demokratisierung als Parlamentarisierung der Sicherheitspolitik. Dies erlaubt die Formulierung der zentralen Forschungshypothese, dass sich machtvolle Parlamente responsiv gegenüber einer kriegsaversiven Bürgerschaft verhalten und die Sicherheitspolitik von Exekutiven eingrenzen.

Als Testfall wählten wir das Verhalten europäischer Staaten im Zusammenhang mit der Irak-Intervention 2003 aus. Das Untersuchungssample bestand aus allen 25 Staaten, die Anfang 2003 entweder Mitglieder der Europäischen Union waren oder deren Beitritt unmittelbar bevorstand. Eine europaweite Meinungsumfrage des Instituts EOS-Gallup Europe von Ende Januar 2003 belegte, dass sich in allen 25 Ländern des Samples eine deutliche Mehrheit von jeweils mindestens 60 Prozent der Befragten gegen eine Beteiligung ihres Landes an einem militärischen Vorgehen gegen den Irak ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats aussprach. Somit konnten wir in allen Ländern eine kriegsaversive Bürgerschaft voraussetzen.

Aus diesen Überlegungen ergab sich der Ablauf des Projekts: Aufgabe war zunächst, geeignete Messinstrumente zur Erhebung der beiden Variablen „Ausmaß parlamentarischer Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“ einerseits und „Grad der Kriegsbeteiligung“ andererseits zu entwickeln, was in Form zweier Typologien erfolgte. Auf dieser Grundlage wurden dann in arbeitsaufwändigen Recherchen die entsprechenden Daten für die 25 Länder erhoben, überprüft und kodiert. In einem abschließenden Schritt erfassten wir die Zusammenhänge zwischen parlamentarischer Kontrollmacht und Kriegsbeteiligung, um die Forschungshypothese zu testen.
 

Projektablauf

Zunächst erstellten wir zunächst einen Literaturbericht zum Stand der Forschung (paks working paper 2) und entwickelten theoretisch fundierte Messinstrumente für die Erhebung der beiden Variablen „Ausmaß parlamentarischer Kontrolle militärischer Sicherheitspolitik“ einerseits (paks working paper 3) und „Grad der Kriegsbeteiligung“ (paks working paper 4).

Die intensive und fundierte Analyse der theoretischen Grundlagen (auch im Kontext der eigenen wissenschaftlichen Vorarbeiten der Projektleiter) ergab, dass der Zusammenhang zwischen Parlamentarisierung der Sicherheitspolitik und Kriegsbeteiligung bislang kaum beachtet und auch weder kritisch hinterfragt noch empirisch-analytisch an spezifischen Fallbeispielen systematisch erfasst und analysiert worden war. Einschlägige Untersuchungen beschäftigten sich entweder mit dem Sonderfall USA oder sie bezogen sich auf institutionell-juristische Fragen, ohne den wissenschaftlichen Anspruch zu erheben, den angenommenen pazifizierenden Effekt einer Parlamentarisierung der Außensicherheitspolitik näher zu überprüfen. Eine weitere wissenschaftliche Leerstelle fand sich dahingehend, dass sich die wenigen systematisch-ländervergleichenden Erhebungen bislang eng auf das Entsenderecht im Zusammenhang mit den im Vergleich zu einer Kriegsbeteiligung weitaus weniger risiko- und kostenträchtigen und auch normativ weniger problematischen Peacekeeping-Operationen konzentriert hatten.

Nach Durchsicht der Literatur war deutlich, dass wir uns nicht auf vorhandene Typologien stützen konnten, sondern diese völlig neu entwickeln mussten. Die Herausforderung bestand darin, dass die gängigen politikfeldunspezifische Typologien demokratischer Systeme (wie beispielsweise bei Elman
[1] oder die an militärstrategischen Kriterien orientierten Kriegsbeteiligungstypologien (wie bei den üblichen Kriegsstatistiken) für unsere Zwecke nicht brauchbar waren. Daher entwickelten wir eine „paks Typologie zur Stärke parlamentarischer Macht in Fragen militärischer Gewaltanwendung“ und eine „paks Typologie zum Grad der Kriegsbeteiligung im utilitaristischen Kalkül der Bürger“. Beide Typologien unterscheiden jeweils fünf ordinal skalierte Stufen und ermöglichen eine differenzierte Erfassung der beiden Variablen. In vielen Fällen wird erst dadurch die pazifizierende Wirkung von Demokratisierung sowohl identifizierbar als auch plausibel, welche die bisher übliche dichotome Gegenüberstellungen von Demokratie vs. Nichtdemokratie und Kriegsbeteiligung vs. Nichtbeteiligung verdeckt hatten.

Den größten Aufwand im Rahmen der Projektarbeit erforderte die Erhebung der Daten zur Stärke parlamentarischer Macht und zur Kriegsbeteiligung entsprechend den beiden paks-Typologien. Die Kontrollmacht der 25 europäischen Parlamente im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik, speziell bei der Frage der militärischen Gewaltanwendung, erhoben wir anhand von vier politikfeldspezifisch konzeptualisierten Machtressourcen der Parlamente, d.h. legislative Ressourcen (Entsende- und Budgetrecht), Kontrollressourcen (Informations- und Untersuchungsrecht), Kommunikationsressourcen (Herstellung von Öffentlichkeit durch Debatten) sowie Abwahlressourcen (Entlassung einzelner Minister und/oder der Regierung gesamt) (paks working paper 3, S. 12ff.). Die Datensammlung umfasste neben der Analyse von Rechtstexten (Verfassungen, Gesetzen und Geschäftsordnungen) sowie länderspezifischer und  übergreifender Literatur auch eine Erhebung von Primärdaten mittels eines Fragebogens, der an alle 25 europäischen Parlamente versandt und durch Telefoninterviews ergänzt wurde. Dieser Fragebogen enthielt im Wesentlichen offene Fragen und war qualitativ strukturiert, auf quantitative Fragekomplexe wurde verzichtet. Im Rahmen dieser aufwändigen Primärerhebung konnten wir einige Mängel und Fehlinformationen in der bisherigen Fachliteratur (z.B. zur zeitlichen Geltung bestimmter Gesetze oder zur korrekten Übersetzung der Dokumente ins Englische, Deutsche oder Französische) korrigieren und bislang unbekannte Detailinformationen erschließen (was in mehreren Fällen die betreffenden Parlamente selbst dazu bewegte, juristische Gutachten anfertigen zu lassen). In wenigen Fällen ließ sich jedoch trotz dieses Aufwands die genaue Bedeutung von Rechtsbestimmungen nicht eindeutig klären. Angesichts der begrenzten zeitlichen und personellen Projektressourcen mussten wir diese Lücken hinnehmen, die jedoch die grundsätzliche Kodierung der einzelnen Fälle nicht beeinträchtigten. Diese Lücken blieben sowohl für die die theoretische Ableitung der paks-Typologien als auch für das Gesamtergebnis der empirischen Operationalisierung ohne Relevanz.

Aufgrund der im Projektdesign geplanten Verknüpfung mit der Beteiligung der jeweiligen Staaten am Irak-Krieg erfassten wir den Stand der parlamentarischen Kontrollmacht im Bereich der militärischen Gewaltanwendung zum Frühjahr 2003. Mittlerweile haben sich in einigen der Fälle die Machtressourcen verändert, so dass heute einige Parlamente anders eingestuft werden müssten. Beispiele hierfür sind die Fälle Spanien und Zypern, in denen die parlamentarische Kontrolle ausgebaut worden ist, oder Ungarn, wo es zu einem Abbau der parlamentarischen Kontrollrechte gekommen ist.

Für die 25 Fälle trugen wir parallel Daten über die jeweilige Beteiligung am Irak-Krieg 2003 zusammen. Dabei unterschieden wir strikt, ob sich die Kriegsbeteiligung auf die Vorbereitung und Durchführung des internationalen Kriegs zwischen der „Coalition of the willing“ und dem Irak (bis einschließlich April 2003) oder auf die nachfolgende Phase der militärischen Besatzung und „Stabilisierung“ des Irak (ab Mai 2003) bezog. Gemäß dem ursprünglichen Projektdesign erhoben wir die Kriegsbeteiligung für beide Zeiträume entsprechend der paks-Typologie, um durch diese zeitlich gestaffelte Messung der Kriegsbeteiligung denkbare verzögerte Vetoeffekte parlamentarischer Beteiligung erfassen zu können. Diese erwarteten wir zum ersten aufgrund rechtlicher Verzögerungseffekte beim parlamentarischen Handeln, beispielsweise durch die Frist von 60 bzw. 90 Tagen für Truppenentsendungen ohne Parlamentsbeschluss gemäß dem US-amerikanischen War Powers Act. Zum zweiten erwarteten wir Verzögerungseffekte auch durch eine mögliche veränderte (ökonomische und rationalistisch orientierte) Kostenkalkulation der Bürger parallel zum zeitlichen Fortschreiten der militärischen Aktion und zwar abhängig davon, ob es sich um erwartete Kosten vor Kriegsbeginn oder tatsächliche Kosten während des Kriegsverlaufs handelt.

In der Endauswertung des Projekts verzichteten wir jedoch aus mehreren Gründen darauf, die Post-Interventionsphase zu berücksichtigen und beschränkten uns auf die Phase der Vorbereitung und Durchführung der eigentlichen militärischen Intervention. Der Hauptgrund hierfür bestand darin, dass für diese Phase eines intensiv geführten klassischen Kriegs im Sinne des utilitaristischen Kalküls der Bürger mit den potentiell höchsten Kosten zu rechnen war. Unter diesen Umständen musste hier die Kriegszurückhaltung am deutlichsten ausgeprägt sein. Der Verzögerungseffekt für parlamentarische Kontrolle zum Beispiel gemäß dem US-amerikanischen War Powers Act bezog sich daher eher darauf, dass ein ursprünglich kurzer und wenig intensiver Militäreinsatz eskaliert und das Parlament die Regierung dann „ausbremst“ oder blockiert. Im Falle des Irak-Kriegs 2003 hatten wir es jedoch mit einer gegenläufigen Entwicklung zu tun, da hier ein ursprünglich sehr intensiver Krieg nach relativ kurzem Verlauf vermeintlich mit einem militärischen Sieg beendet werden konnte und im Kalkül der Bürger – und der Parlamente – danach lediglich noch Stabilisierungs- und Peacekeeping-Einsätze durchgeführt werden mussten. Außerdem veränderte sich das normative „framing“ des Irak-Kriegs im Verlauf und somit auch das Kosten-Nutzen-Kalkül der Bürger. Die in unserer Hypothese unterstellte europaweite Kriegsaversion der Bürger bezieht sich auf eine Umfrage vom Januar 2003, in der die Frage des fehlenden UN-Mandats eine entscheidende Rolle spielte. Für die Besatzungsphase ab Mai 2003 kann dies jedoch nicht mehr in gleicher Weise unterstellt werden, da der UN-Sicherheitsrat mit der am 22. Mai 2003 verabschiedeten Resolution 1483 die Besatzungstruppen für die Verwaltung des Irak verantwortlich macht und sich damit aus der Sicht der Bürger die Frage des UN-Mandats möglicherweise anders darstellt. Wie wir im paks working paper 10 ausführen, bietet es sich dessen ungeachtet an, auf der Grundlage unserer Daten weiterführende Studien zum Beispiel zu den verzögerten Effekten des „parlamentarischen Friedens“ oder zu einer möglichen Diskrepanz zwischen einer normativen und einer utilitaristischen Bewertung der Kriegsbeteiligung durch die Bürger durchzuführen.

Jenseits eines „common sense“ darüber, welcher Staat sich wie am Irak-Krieg beteiligt hat, zeigt die genaue Erhebung der Kriegsbeteiligung im hier erläuterten Sinne einige erstaunliche Befunde, die durchaus auch von der diplomatischen Position der jeweiligen Regierung zum Irak-Krieg – sowohl als Unterstützerin wie Kritikerin – abweichen können.

Für die statistische Endauswertung unserer Ergebnisse benutzen wir über die im Projektantrag genannten Koeffizienten hinaus weitere Maßzahlen, die uns im Hinblick auf die modifizierte Struktur der Typologien und unter Berücksichtigung fachmethodischer Ratschläge aussagekräftiger erschienen. Insgesamt konnten wir dadurch zeigen, dass die Verteilung unserer Untersuchungsergebnisse überzufällig ist und unsere Hypothese tendenziell bestätigt wird (paks working paper 10).

Ergebnisse

Im Ergebnis haben sich die Staaten, deren Parlamente über eine starke Kontrollmacht im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik verfügen, bei der Irak-Intervention 2003 tenden-ziell mit ihrer Kriegsbeteiligung zurückgehalten, d.h. höchstens in Form logistischer Hilfe an der Irak-Intervention 2003 beteiligt. In Polen und Großbritannien, den beiden Staaten aus unserem Sample, die als einzige Bodenkampftruppen in den Irak schickten, spielen die Par-lamente in den entsprechenden Entscheidungsprozessen eine nur nachrangige Rolle. Beide Befunde bestätigen unsere Hypothese vom „parlamentarischen Frieden“.

Andererseits ergaben sich auch Befunde, die den „parlamentarischen Frieden“ relativieren. Zum einen entdeckten wir zwei deviant cases: trotz sicherheitspolitisch starker Parlamente und einer jeweils deutlich kriegsaversiven Bürgerschaft entsandte Dänemark Marinestreit-kräfte und Litauen schickte rückwärtige Militäreinheiten in das Kriegsgebiet. Eine solche Kriegsbeteiligung entspricht schwerlich den Erwartungen eines „parlamentarischen Friedens“, selbst wenn in beiden Fällen nicht die höchste Stufe einer Kriegsbeteiligung mit Bo-denkampftruppen erreicht wurde.

Zum anderen erstaunt die lange Liste der Länder, die sich am Krieg logistisch beteiligten, also die Nutzung von Militärstützpunkten, Flughäfen und Seehäfen erlaubten oder Transit- und Überflugrechte gewährten. Darunter befinden sich viele Länder mit sicherheitspolitisch starken Parlamenten, darunter sind auch prominente Kritiker der Irak-Intervention wie Deutschland, Frankreich und Belgien sowie neutrale oder nichtalliierte Länder wie Irland und Zypern. Dieser Befund bestätigt eine schon frühzeitig von Müller/Risse-Kappen 
[2] formulierte Antinomie des „demokratischen Friedens“, dass nämlich das utilitaristische Kosten-Nutzen-Kalkül der Bürger nicht zwangsläufig in eine friedliche Außenpolitik demokratischer Staaten münden muss, sondern unter der Bedingung geringer Kriegsbeteiligungskosten durchaus auch zugunsten einer kriegerischen Außenpolitik ausfallen kann (paks working papers 7 und 9).

Ein erstaunliches Ergebnis des Projekts ergab sich übrigens bereits bei der Datenerhebung zu den parlamentarischen Kontrollkompetenzen: Defizite bei der parlamentarischen Kontrolle der Sicherheitspolitik sind ausgerechnet bei den Mutterländern der Demokratie in Europa zu finden, bei den Parlamenten in Großbritannien, Frankreich und Griechenland (paks working papers 5 und 8).



[1]    Elman, Miriam Fendius 2000: Unpacking Democracy: Presidentialism, Parliamentarism, and Theories of Democratic Peace, in: Security Studies 9, 4, 91-126.

[2]   Müller, Harald/ Risse-Kappen, Thomas 1990: Internationale Umwelt, gesellschaftliches Umfeld und außenpolitischer Prozeß in liberaldemokratischen Industrienationen, in: Rittberger, Volker (Hrsg.): Theorien der internationalen Beziehungen. PVS-Sonderheft 21. Opladen: Westdeutscher Verlag, 375-400, S. 390.